“Die Fakten sind auf unserer Seite“
A report by Dr Konrad Yona for the Jewish Vegetarian Society of the Brazilian Vegetarian Society´s Vegfest in Curitiba - October 2013
Bericht vom Vegfest in Curitiba
Konrad Yona Riggenmann, Curitiba
15,3 Millionen Vegetarier! Damit liegt Brasilien, gemäß einer Umfrage des renommierten Instituts IBOPE, auf dem zweiten Platz hinter Indiens 400 Millionen (2006). Indien, klar: Mahatma Gandhi, Gemüse-Curry, heilige Kühe – aber Brasilien, das Land der Fleischspieße und Fazendas?
Die brasilianischen Umfragewerte wurden angezweifelt, da manche Brasilianer sich schon für Vegetarier halten, wenn sie kein rotes Fleisch essen sondern nur Fisch und Frango (Hähnchen). Ich halte die Daten für weitgehend glaubwürdig. Buffet-Restaurants vom Typ Porquilo (nach Gewicht) machen den Fleischverzicht leicht; rein vegetarische Restaurants findet man in jeder größeren Stadt, und eine Vielfalt wie hier in Curitiba wird man in Deutschland nicht einmal im grünen Freiburg, sondern höchstens in Berlin finden.
Curitiba, knapp außerhalb der Tropen und 950 Meter über dem nahen Meer, gilt als die kühlste Landeshauptstadt in Brasilien: ungewohnt für viele der 1.500 Gäste des Vegfest, die – zu gut zwei Dritteln weiblich – im September zur Geburtstagsfeier der Sociedade Vegetariana aus allen Ecken Brasiliens angereist waren, aber auch aus Argentinien, Ecuador und Mexiko. Präsidentin Marly Winckler, vor zehn Jahren die Hebamme des Babys SVB, hat zwischendurch Peter Singers Animal Liberation ins Brasilianische übersetzt und ist heute gleichzeitig Chefin der International Vegetarian Union. Auch dies zeigt: Brasilien ist Veg-Avantgarde. „Marly, was ist besonders in Brasilien?” – “Es stimmt schon, was Stefan Zweig sagte: Brasilien ist ein Land der Zukunft. Mit seiner Miszigenität, ohne große Vorurteile, ist es tatsächlich eine neue Kultur. Aber auch Brasilien wird für seine Sünden bezahlen müssen, für das, was wir der Natur antun. Wir brauchen neue zivilisatorische Maßstäbe, eine Kultur des Respekts zwischen Tier – Mensch – Natur. Zum Glück sind die Zeitumstände heute günstiger. Denk an das vegetarische Schulkostangebot im ganzen Bundesstaat São Paulo. Es gibt da eine Akzeptanz und Offenheit bei den Behörden, und man kann die Fakten einfach nicht mehr ignorieren.“ – „Aber Fakt ist auch Brasiliens Churrascultura, oder?“ – „Es gibt hier starke finanzielle Interessen, diese Leute finanzieren Kampagnen, aber die Fakten sind auf unserer Seite, da gibt es eine starke Dynamik. Vegetarismus ist die Zukunft.“
Und wo ist Deutschland in dieser Dynamik? Laut Die Zeit (22.Juli 2013) haben sich zwischen Flensburg und Freiburg die Vegetarier seit 2006 auf nun stolze 3,7 Prozent verdoppelt. Toll! Hinter Indien (40 %), Italien (12 %), Taiwan (10 %), Brasilien und Israel (8,5 %), den Briten und Iren (je 6 %), den Schweizern und US-Bürgern (5 %), den Holländern (4,3 %), Kanadiern und Spaniern (je 4 %), rangiert Deutschland nun immerhin vor Australien und Österreich (je 3 %), Belgien, Frankreich und Norwegen (2 %); Dänemark und Tschechien (1,5 %), Polen und Slovakien (je 1 %) und vor der kolonialen Mutter Portugal (0,3 %), von der’s die Brasilianer wohl nicht haben.
Trotz dem höheren Bildungsstand wird in Deutschland die Fleischfrage weit zögerlicher als Schlüsselfrage für Ökologie, Gesundheit und Rechte von Menschen und Tieren wahrgenommen. Zwei Wochen nachdem ihr Vorschlag eines fleischfreien Tages wohl zur Abwatschung der Grünen bei der Bundestagswahl beigetragen hatte, schwärmte sogar t-online von der US-amerikanischen DASH diet als „gesündester Diät des Jahres 2013“, obwohl diese Diät mindestens drei fleischfreie Tage pro Woche fordert. Das hoch angesehene World Watch Institute hatte schon ein Jahr zuvor berechnet, dass Verbrauchstierzucht aktuell für 51 % der Treibhausgase verantwortlich ist, mehr als durch sämtliche Verkehrsmittel zusammen entstehen. Die Palette der mit Tierkonsum liierten Krankheiten umfasst das ganze ABC von Alzheimer, Botulismus, Colitis und Diabetes über Osteoporose, Parkinson, Q-Fieber und Rheuma bis zu den Zoonosen, d.h. ursprünglich tierischen Krankheiten, die zu drei Vierteln durch Tierhaltung und Fleischkonsum auf den Menschen übersprangen. „Post-antibiotische Ära“ bedeutet, dass der Menschheit für viele solcher lebensbedrohlichen Krankheiten vielleicht bald keine Antibiotika mehr zur Verfügung stehen werden, da deren breite Verwendung in der Massentierzucht resistente Erreger gezüchtet hat. Und für all diese wunderbaren Mittel zu geglückten Menschenleben wird Rindern in Schlachthäusern lebendig die Haut abgezogen weil sie auch nachdem ihr Kopf durch Bolzenschüsse schon „aussah wie ein Schweizer Käse“ noch bei Bewusstsein waren (Gail Eisnitz, Slaughterhouse), werden Schweinen die Schwänze, Hühnern die Schnäbel kupiert (damit sich die neurotisierten Insassen nicht gegenseitig anpicken); und Kälber zu Lebenslänglich (d.h. vier Monate „Leben“) auf 1,8 Quadratmetern (in BW) verurteilt. Wohlgemerkt, keinem dieser Inhaftierten wurde je ein strafbares Delikt nachgewiesen.
Entsprechendes gilt selbstverständlich auch für die primären Opfer des brasilianischen Soja-Anbaus, nämlich die Landarbeiter im Nebel von Pestiziden, die teilweise in der ersten Welt längst verboten sind; oder für die Arbeiter in der Tierproduktion (von Aufzucht bis Schlachthaus), der gefährlichsten Branche für die Beschäftigten (nicht nur) in Brasilien. Gleichzeitig gelten für die Unternehmen der Fleischbranche, für deren Arbeiter die dreifache Arbeitsbelastung (Handgriffe pro Minute) und eine dreifache Zahl von Verletzungen, Überlastungen und Depressionen diagnostiziert wird als im Schnitt der anderen Branchen, äußerst niedrige Steuersätze. Zum Beispiel zahlte Sadia (wörtlich „die Gesunde“), eine der big players der Fleischbranche, von 2003-2007 insgesamt circa 40 Millionen R$ in die Kasse der INSS (Nationalinstitut Soziale Sicherheit), während dasselbe INSS aus derselben Steuerkasse im selben Zeitraum fast 140 Millionen R$ Versorgungskosten für erkrankte Beschäftigte von Sadia zahlen musste. Das Konkurrenzunternehmen Marfrig/Seara erhielt wegen seiner hohen Verschuldung (1 Milliarde R$) großzügige Kapitalhilfe von der brasilianischen Regierung, zahlt aber als Sponsor der Fußball-WM 2014 wohl nicht wenig an die FIFA, die stolz meldet, dass ihr Sponsorvertrag mit McDonald’s letzterem „seine exklusiven Vermarktungsrechte im Bereich des Retail Food Service“ garantiert. Bei allen 64 WM-Spielen werden also Kinder im Mc-Donald’s-Dress Hand in Hand mit den Stars ins Stadion einlaufen, wo die Fans schon ihre BigMacs kauen. Apropos: Weltmeister ist Brasilien schon jetzt zumindest als Fleischexporteur (Rind wie Huhn), wobei für die 210 Millionen Rinder aktuell schon eine Agrarfläche von zwei Millionen Quadratkilometern (sechsmal so groß wie Deutschland) herhalten muss. Aber das reicht nicht: Viehhaltung ist für 81 % der Waldrodungen in Brasilien verantwortlich – und für 80 % der noch immer bestehenden Sklavenarbeit.
Präsentiert wurden diese Zahlen von Vegfest-Referent Lydvar Schulz, einem Mitglied der Curitibaner Tierbefreiungsgruppe Onca. Als Mann gehörte Lydvar hier zur Minderheit. Marly Winckler sieht den Grund der weiblichen Dominanz im Vegetarismus erstens darin, dass sie mehr in der Küche stehen, mehr mit Kindern, Körper, Gesundheit befasst sind, während die Männer „mehr rational agieren“. Nicht allzu rational: Wenn ein älterer Herr erzählt, wie seine Tochter ihn bei Curitibas veganem Filmfestival Mostra Animal vom Fleischverzicht überzeugte, darf er als Brasilianer Tränen in den Augen haben. Andrerseits machten die Referentinnen des Vegfest deutlich, dass die Frauen in Brasilien sich nicht auf den emotionalen Part reduzieren lassen. Nicole Oliveira, selber sehr schlank und groß, wies nüchtern auf das Faktum hin, dass der brasilianische Fleischkonsum pro Kopf sich in den letzten 40 Jahren verdoppelte, während allein in den letzten sieben Jahren der Prozentsatz Übergewichtiger von 43 auf 51 zunahm. Dazu muss man wissen, dass die „cesta básica“ – ein rechnerischer Nahrungsmittelkorb als Grundversorgung und Basis auch für Mindestlohn und Inflationsrate – zum Beispiel im Bundesstaat Paraná 6,6 kg Fleisch, 7,5 Liter Milch und 0,75 kg Butter pro Monat enthält, aber nur 3 kg Reis und 4,5 kg proteinreiche Bohnen neben 1,5 kg Mehl, gesunden 90 Bananen und den unvermeidlichen 3 kg Zucker. Auf der Basis dieses Grundrechts auf Fleisch wird eine „linke“ Regierung wie die von Dilma Rousseff logischerweise versuchen, Fleisch zu verbilligen. Die Biologin Prof. Paula Brügger beleuchtete, wie die BNDES (Banco Nacional de Desenvolvimento) 9.5 Milliarden R$ (gut 3 Milliarden Euro) in Fleischgefrieranlagen investierte und 40 Prozent der Kredite aus dem Fonds der Sozialhilfe für Arbeiter finanzierte. Während die BNDES auf ihrer Homepage stolz Werte wie Umweltschutz und Nachhaltigkeit reklamiert, beschleunigte sich nach Berechnungen des INPE (Nationales Institut für räumliche Forschung) die Entwaldung des Amazonasgebiets von 2012-2013 um 26 %. Dies war sogar dem Medienriesen Globo eine web-Notiz wert, während die prominente Nina Rosa Jacob (institutoninarosa) mit ihren Respekt für Tier und Mensch fördernden Dokus bei TV Globo einen Korb bekam, vielleicht deshalb, weil der Hauptsponsor des großen Telenovela-Senders ein Fleischproduzent ist. Kein Wunder also, wenn TV-Moderatorin und Vegetarierin Ellen Jabour für Brasilien dasselbe feststellte wie Prof. Leonora Esquivel für ihr Heimatland Mexiko, den neuen World Champion in punkto Fettleibigkeit: “Vegetarianismo es el privilegio de las clases altas”. Der einzige schwarze Referent des Vegfest, Jura-Professor Heron Santana Gordillo aus Bahia, hob hervor, dass Brasilien mit seiner Zeitschrift für Tierrechte (Revista Brasileira de Direitos Animais) auch hier Vorreiter ist. Weit zurück ging Dr. Acosta Navarro: Erst drei Millionen Jahre nach unserer veganen Urmutter „Lucy“ begann vor 500.000 Jahren das Intermezzo des Fleischessens, mit einem Fleischanteil von 2 % an der Ernährung der Frühmenschen. Arteriosklerose ist erstmals bei Mumien der pharaonischen high society nachweisbar, und 3000 Jahre später ist Brasilien Weltmeister in dieser Krankheit, die für Navarro „o killer numero 1 do mundo“ ist. Gern aufgenommen seitens der vorwiegend jungen und weiblichen Zuhörer wurde auch Dr. Ribeiro de Araujos Widerlegung der alten Mythen von wegen Kinder brauchen Fleisch und Kuhmilch. „Milch ist weiß“: Doppelsinnig warnt die in Konstanz promovierte Philosophin Sônia Felipe vor der speziellen Art „rassischer Bevormundung“ durch eine zwangsweise Schulverpflegung mit Milch, da angesichts der statistischen Lactose-Intoleranz von 90 % bei Afrikanern und Indios, 85 % bei Japanern, 78 % bei Arabern/Juden und 51 % bei US-Latinos eine „intolerancia oculta“ im brasilianischen Ethno-Mix zu vermuten ist. Den Mythos „rotes Fleisch bringt Eisen“ konnte die Ernährungswissenschaftlerin Astrid Pfeiffer relativieren: Tatsächlich sind 60 % der Vegetarier, aber nur 40 % der Fleischesser gut mit Eisen versorgt; zu wenig Vitamin B 12 haben 50 % der Vegetarier – und 40 % der Nichtvegetarier.
Vegetarismus professionalisieren: Ein Beispiel für diesen Programmpunkt von Marly Winckler ist der junge Aktivist Guilherme Carvalho, der als Vollzeitbeschäftigter der SVB eine neue Studie der Universität Wien präsentierte: 1 kg brasilianisches Rindfleisch entspricht 44 Quadratmetern gewesenem Regenwald, oder auch dem CO2-Äquivalent von 1.600 Kilometern im Pkw. Keine Angst, ein Kilo deutsches Rindfleisch entspricht nur 111 km im Auto, solange für das Futter kein brasilianischer Regenwald gerodet wird. Fabio Nunes, ein anderer junger Veganer in der Professionalisierungsphase, ließ die Senatorin und Fleischlobbyistin Katia Abreu im Video erklären, wie wichtig transgenische Soja doch für die hungernden Armen Brasiliens sei – während realiter 97 % dieser Soja zuerst in Tiermägen und dann als Fleisch auf vorwiegend europäischen Tellern landen. Senhora Abreus Heimatstaat Tocantins war 2012, als die Entwaldungsrate insgesamt zurückging, einsamer Champion mit einer Steigerung um 33 % auf 53 entwaldete Quadratkilometer pro Jahr. Als Gegenbeispiel präsentierte Nunes die Cooperative Ecovida in Barra do Turvo, die das praktiziert was Nunes als Lösungsweg sieht: Aufwertung des Arbeiters und vielfältige Permakultur.
Apropos: Kulturteil. Der altersweise Zetti Nunes rezitierte sein Gedicht „Leitão Pururuca“ über das unpassend knusprige Spanferkel zu Jesu Wiegenfest. Vegan Piano und Gitarre spielen geht gut; auch Angelica Marins veganer arabischer Bauchtanz schwingt angesichts der fleischbedingten Üppigkeit vieler Brasilianerinnen mit feiner Ironie. Aber die Banda Djembe Fula, zu drei Vierteln weiblich, begeisterte mit westafrikanischer Percussion auf selbstgebauten, tierhautfrei vibrierenden tambores veganos: Rhythm & no Blues. Im Forum Ativismo vegetariano sprach website-Gründer Fabio Chaves über seine provokante facebook-Aktion „Bringt mich zurück zum Fleischessen!“ Tatsächlich erhielt Fabio seitenlange Überzeugungsversuche. Aber, wie Marly sagte, „die Daten sind auf unserer Seite“. Und das Wort abolição für Tierbefreiung stellt in Brasilien, 125 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei, eine wichtige Beziehung her, die Max Horkheimer in seiner Metapher vom Wolkenkratzer um 1933 so beschrieb: Ganz oben die „Trustmagnaten der verschiedenen kapitalistischen Mächtegruppen“, ganz unten aber, „unterhalb der Räume, in denen millionenweise die Kulis der Erde krepieren, wäre dann das unbeschreibliche, unausdenkliche Leiden der Tiere, die Tierhölle in der menschlichen Gesellschaft darzustellen, der Schweiß, das Blut, die Verzweiflung der Tiere.“
Das nächste Vegfest findet 2015 in Recife statt, wo 160.000 Vegetarier zehn Prozent der Bevölkerung darstellen. Barbara Bastos‘ Vorbereitungsteam, das Curitiba wenn möglich noch übertreffen möchte, stand bei der Schlussfeier auf der Bühne: weitgehend weiblich.
Zum Autor: Dr. Konrad Yona Riggenmann hat drei Jahrzehnte als Lehrer unterrichtet. Er promovierte mit einer Dissertation über John Deweys Einfluss im brasilianischen Schulsystem.
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